Natürlich, es hat Gründe, dass die Anthroposophie vielfach irritierend wirkt. Sie komme, so Steiner, „als ungeladener Gast in das moderne Leben hinein.“ – Kein Wunder also, dass sie zunächst
unfreundlich, unzart behandelt wird. Später vielleicht
beginnt man nach und nach höflicher zu werden…
Anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, von der hier wieder die Rede sein soll, wie in den Vorträgen vor einigen Wochen von ihr die Rede war, diese Geisteswissenschaft wird von vielen Menschen in unserer Zeit noch aufgefasst, wie man etwa – man könnte den Vergleich schon machen – einen uneingeladenen Gast innerhalb einer Gesellschaft auffasst. Man verhält sich zunächst, selbstverständlich, gegenüber einem uneingeladenen Gaste, wenn man ihn so ansehen muss, recht ablehnend. Andere wissenschaftliche Strömungen, andere wissenschaftliche Zweige sind durch die schon erkannten Bedürfnisse der Menschen durchaus eben, ich möchte sagen, geladene Gäste im geistigen Streben der Menschheit der Gegenwart. Allein, wenn man gegenüber einem ungeladenen Gaste dann die Wahrnehmung macht, dass er einem etwas zu bringen hat, das man verloren hatte und das einem doch in einer gewissen Beziehung sehr, sehr wertvoll sein kann, dann beginnt man, auch den ungeladenen Gast etwas anders zu behandeln als vorher. Und in dieser Lage ist im Grunde die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft. Sie hat zu sprechen von geistig-seelischen Gütern der Menschheit, die in einer gewissen Beziehung in ganz begreiflicher Art der neueren Kulturmenschheit verlorengegangen sind und die wiederum gebracht werden müssen. Verlorengegangen sind sie dadurch, dass während Jahrhunderten, Jahrtausenden geschichtlicher Entwickelung die Menschheit für dasjenige, was da in Betracht kommt, ein gewisses instinktives Erkennen hatte; dieses instinktive Erkennen kann die Menschheit sich nicht fernerhin in derselben Art bewahren, hat es sogar bis zu einem gewissen Grade schon verloren.
Rudolf Steiner in einem öffentlichen Vortrag in Basel, 23.11.1917 (GA 72)
Geisteswissenschaft findet sich heute noch innerhalb des Geisteslebens der Gegenwart so ein, als wenn man sie eben nicht gefordert hätte. Allein, einem ungeladenen Gast gegenüber, so unfreundlich, so unzart man vielleicht zunächst ist, einem ungeladenen Gast gegenüber beginnt man nach und nach höflicher zu werden, sogar höflicher als gegenüber den eingeladenen Gästen, wenn man merkt, er hat irgend etwas zu bringen, das man verloren hat, das er gefunden hat. Man hat das vorher nicht gewusst, und man merkt das dann erst.
Rudolf Steiner in einem öffentlichen Vortrag in Bern, 28.11.1917 (GA 72)